FAMILIE

Gefühlsstarke Kinder verstehen und begleiten – Nora Imlau im Interview

Wilder, bedürftiger und fordernder als andere Kinder, gleichzeitig auch sensibler und verletzlicher: „Gefühlsstarke Kinder“ nennt Autorin Nora Imlau Jungen und Mädchen, die sich von Geburt an von Gleichaltrigen unterscheiden. Obwohl jedes siebte Kind von großer Gefühlsstärke geprägt ist, fühlen sich viele Eltern allein und fragen sich, warum gerade ihr Kind sich anders verhält und was sie tun können, um es besser zu verstehen.

Nora Imlaus neues Buch „So viel Freude, so viel Wut“ erzählt von genau diesem sensiblen Thema. Und die Reaktionen der Leser sind durchweg positiv. Warum? Weil die Autorin es schafft, einem beim Lesen das Gefühl zu geben, dass man eben keinen Elternratgeber liest. Stattdessen führt sie auf 300 Seiten ein fachkundiges und ehrliches Gespräch auf Augenhöhe. Sie nimmt sich die Zeit, das Thema wissenschaftlich zu beleuchten und gibt praktische Hilfestellungen, um Eltern zu zeigen, wie sie die Emotionen ihrer Kinder begleiten können. Wir haben mit Nora Imlau gesprochen.

„Die Bäume mit tiefen Wurzeln sind die, die hoch wachsen“ Frédéric Mistral

Gefühlsstarke Kinder verstehen und begleiten – Nora Imlau im Interview

Liebe Frau Imlau, wir haben Ihr neues Buch „So viel Freude, so viel Wut“ wirklich mit Begeisterung gelesen. Auch wenn wir uns nicht alle direkt von dem Begriff „gefühlsstarke Kinder“ angesprochen gefühlt haben, hat es uns sehr berührt, bestärkt und inspiriert. Warum ist Ihnen das Thema so wichtig?

Weil es normal ist, verschieden zu sein! So viele Eltern verzweifeln daran, dass ihr Kind anders ist als andere: wilder, energischer, willensstärker. Gleichzeitig aber auch sensibler, bedürftiger, weinerlicher. Sie fragen sich: Was haben wir falsch gemacht? Dabei haben sie überhaupt nichts verkehrt gemacht. Ihr Kind hat einfach nur eine andere Persönlichkeitsstruktur als das gleichaltrige Nachbarskind, das im Vergleich so lieb und brav und unkompliziert wirkt. Dass Kinder so unterschiedlich sind, ist keine Frage der Erziehung, sondern der Hirnchemie – das finde ich eine unglaublich wichtige und entlastende Botschaft.

Ein 2-jähriges Kind, das sich im Supermarkt auf den Fußboden wirft, weil es keinen Keks haben darf: Eine Situation aus dem Alltag, die vermutlich alle Eltern kennen. Wutausbrüche haben eigentlich alle Kleinkinder. Was unterscheidet gefühlsstarke Kinder von anderen gleichaltrigen Kindern?

Das stimmt: Starke Gefühle zu haben und diese auch ganz ungeniert auszuleben, gehört zum Kindsein dazu. Doch während die meisten Kinder zwar ab und zu einen Gefühlsausbruch hinlegen, dazwischen aber auch entspannte und ausgeglichene Momente haben, springen gefühlsstarke Kinder von einer extremen Emotion in die nächste, ohne Rast, ohne Pause. Einfach nur so mittelzufrieden sind diese Kinder so gut wie nie. Sie scheinen von jedem Gefühl nur die Extremvariante zu kennen: tiefste Trauer, überschießende Freude, wildeste Wut. Meist sind sie von der Heftigkeit ihrer eigenen Gefühle selbst völlig überfordert und brauchen sehr viel emotionale Begleitung, um mit der Intensität ihres Gefühlslebens einigermaßen klar zu kommen.

Sie waren mit Ihrem neuen Buch in ganz Deutschland unterwegs und haben verschiedene Lesungen gehalten. Welche Rückmeldungen haben Sie, z. B. von Eltern, Pädagogen und anderen Fachautoren, erhalten und sind vielleicht sogar weitere Gedanken zu dem Thema entstanden?

Ich bin sehr dankbar für die vielen berührenden Begegnungen während meiner vielen Lesungen deutschlandweit. Die Psycholog*innen und Pädagog*innen im Publikum erkannte ich oft daran, dass da zunächst eine gewisse Skepsis zu spüren war: Wird uns hier nun nach ADHS und Hochsensibilität noch ein neues Label für schwierige Kinder angetragen? Nachdem ich zu Ende gesprochen hatte kam dann aber ganz viel positives Feedback: Endlich erklärt mal jemand in ganz anschaulicher Sprache, warum Kinder so unterschiedlich ticken und was kleine Menschen brauchen, um einen gesunden Umgang mit ihren eigenen Gefühlen zu erlernen. Besonders beeindruckt hat mich außerdem, wie viele ältere Menschen zu meinen Veranstaltungen kamen, deren eigene Kinder längst schon erwachsen waren. Teilweise wollten sie ihre Enkel und deren Eltern besser verstehen, oft ging es ihnen aber auch um sie selbst: Welche Teile meiner Persönlichkeit waren in mir schon von Anfang an angelegt, auch wenn ich sie vielleicht nie so ausleben durfte? In Frankfurt an der Oder kam am Ende der Veranstaltung eine Dame zu mir und sagte:

"Ich bin 84 Jahre alt, und ich bin wirklich froh, dass ich nicht gestorben bin, bevor ich erfahren habe, dass ich nicht schwierig, sondern ein gefühlsstarkes Kind war!"

Sie führen in Ihrem Buch verschiedene prominente Persönlichkeiten auf, wie Astrid Lindgren, Albert Einstein und Steve Jobs, denen man eine Gefühlstärke nachsagt. Wie könnte sie diese Gefühlstärke bei ihrem Erfolg unterstützt haben?

Gefühlsstarke Menschen haben eine unglaubliche Auffassungsgabe: Sie nehmen alles ganz intensiv wahr, speichern jeden Sinnesreiz in sich ab, saugen die Signale der Welt um sie herum regelrecht auf. Dazu haben sie schier unerschöpfliche Energiereserven, einen starken Gerechtigkeitssinn sowie den Drang, gegen Unrecht aufzustehen und sich für Veränderungen stark zu machen. All diese Eigenschaften können in der Kindheit für sie und ihre Eltern schwierig und herausfordernd sein, doch sie bieten auch die perfekte Grundlage, um sich mit ganz viel Hingabe und Hartnäckigkeit dem eigenen Lebensthema zu verschreiben – ob das das Schaffen unvergleichlicher Kinderliteratur ist oder die Erfindung der Relativitätstheorie.

Einige Tipps, die Sie in dem Buch aufführen, könnten bei Eltern den Gedanken des „Helikopterns“ hervorrufen. Wie würden Sie diese Themen voneinander abgrenzen und Ihre Leser bestärken?

Helikopter-Eltern sind ja immer die anderen. Wenn ich ein Kind habe, das sich beispielsweise mit dem Übernachten bei Freunden überhaupt nicht schwer tut, ist es leicht, andere Eltern zu belächeln, die ihr Kind akribisch darauf vorbereiten und es im Notfall auch mitten in der Nacht wieder abholen. Deshalb halte ich die meisten Helikopter-Vorwürfe für unproduktives Eltern-Bashing. Echtes Helikoptern findet aus meiner Sicht nämlich nur dann statt, wenn ein Kind in seiner natürlichen Selbstständigkeitsentwicklung ausgebremst wird, also beispielsweise nicht auf die Rutsche klettern darf, weil Mama das nicht mit ansehen kann. Die Tipps in meinem Buch zielen hingegen darauf ab, Kinder in ihren Ängsten ernst zu nehmen und mit ihnen gemeinsam Strategien zu entwickeln, wie sie ihre selbstgesteckten Ziele erreichen können. Es geht also nicht ums Ausbremsen, sondern ums Flügelgeben – auf ganz liebevolle, achtsame Weise, ohne Stress und Zwang.

Welche Tipps haben Sie für Eltern, deren Partner „Gefühlsstärke“ für eine alberne Modeerscheinung halten?

Es wird leider immer Menschen geben, die sich schwer damit tun, sich für neue Gedanken in der Erziehung zu öffnen und sie deshalb als neumodischen Quatsch abtun. Oft steckt dahinter ein eigener alter Schmerz: Wer selbst als Kind keine starken Gefühle zeigen durfte, kann es oft schwer aushalten, wenn für den eigenen Nachwuchs plötzlich andere Regeln gelten sollten. Schließlich stellt das so vieles in Frage: meine eigene Kindheit, die Erziehungsvorstellungen meiner eigenen Eltern, meine Glaubenssätze, was gut für mich war …

Was mich aber optimistisch stimmt: Viele Mütter haben mir mittlerweile erzählt, dass sie ihren zunächst skeptischen Partnern einzelne Passagen aus „So viel Freude, so viel Wut“ vorgelesen haben und damit teilweise echte Aha-Effekte erzielen konnten. Gerade die Erklärungen, warum das Gehirn mancher Kinder einfach anders funktioniert, haben auch zunächst offen ablehnende Elternteile überzeugen können. Und weil mir so viele Eltern geschrieben haben, dass ihre Partnerin oder ihr Partner die Inhalte des Buches unbedingt kennen sollte, aber einfach nicht zum Lesen kommt, arbeiten wir gerade an einer Hörbuch-Version, die ab Oktober erhältlich sein wird. Dann können kritische Partner*Innen ganz nebenbei beim Autofahren mehr über gefühlsstarke Kinder erfahren – vielleicht hilft das ja auch bei der Überzeugungsarbeit.

Und last but not least: Was ist der wichtigste Rat, den Sie Eltern eines gefühlsstarken Kindes mit auf den Weg geben würden?

Sich zu verabschieden von dem unkomplizierten Traumkind, das sie sich vielleicht gewünscht hatten. Und mit bedingungsloser Liebe das wunderbare und einzigartige Kind anzunehmen, das sie bekommen haben.

Foto von Nora Imlau © Malina Ebert

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Emilie

Emilie hat eine Schwäche für DIY-Themen. Wenn sie eine neue Inspiration erhält, juckt es ihr in den Fingern. Dabei ist das Ergebnis oft nebensächlich... Der Weg ist das Ziel! Nähen, häkeln, basteln - dabei kann die Zeit schon mal stehen bleiben. Ihre kleine Tochter liebt es sie dabei zu unterbrechen. Das treibt sie schon mal in den Wahnsinn, aber viel öfter bringt es sie zum Lachen!

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